
Wenn wir über Spannung sprechen, hören wir immer wieder dasselbe: mehr Konflikte, mehr Überraschungen, mehr Wendungen.
Doch je länger ich als Lektorin mit Manuskripten arbeite, desto klarer wird mir, dass all das nur Oberfläche ist. Spannung entsteht nicht durch die Anzahl der Ereignisse, sondern durch das, was in den Köpfen der Lesenden ausgelöst wird.
Manchmal passiert im Plot unglaublich viel und doch berührt es uns nicht.
Und dann reicht ein leiser Moment, um uns den Atem anhalten zu lassen.
Warum?
Weil Spannung aus Erwartung entsteht.
Aus Ungewissheit.
Aus einer offenen Frage, die drängt und drängt und uns nicht mehr loslässt.
Spannung entsteht als Gedanke, nicht als Aktion
Lesende erleben Spannung nicht objektiv. Sie fühlen sie als inneren Druck. Eine Geschichte macht sie nicht nervös, weil etwas passiert, sondern weil sie wissen wollen, ob etwas passieren wird. Oder wann. Oder was.
Man kann es sich wie ein Vakuum vorstellen.
Sobald eine Frage offen bleibt, entsteht Spannung.
Wird sie es schaffen?
Sagt er endlich die Wahrheit?
Kommt jemand dahinter?
Warum ist die Tür nicht abgeschlossen?
Spannung entsteht nicht, wenn sie beantwortet wird, sondern im Moment davor. Im Kopf und im Herz.
Der Unterschied zwischen Ereignis und Wirkung
Ein häufiges Missverständnis im Schreiben ist:
Ereignisse = Spannung.
Doch Ereignisse erzeugen nur Bewegung. Spannung entsteht, wenn die Lesenden emotional investieren. Wenn sie etwas verlieren könnten. Wenn sie wissen wollen.
Ein Beispiel:
Variante A:
„Er hörte einen Knall und rannte los.“
Variante B:
„Er hörte einen Knall und wusste, dass er vielleicht zu spät war.“
In A passiert mehr.
In B fühlt man mehr.
Und weil man fühlt, entsteht Spannung.
Spannung entsteht, wenn etwas unklar bleibt
Es lohnt sich, beim Schreiben weniger auf Action zu achten und mehr auf die Lücke.
Lesende wollen mitraten. Selbst deuten. Selbst etwas befürchten.
Wenn du ihnen alles erklärst, bleiben sie außerhalb der Geschichte.
Wenn du ihnen etwas vorenthältst, erleben sie die Spannung.
Und genau das ist Spannung: fühlen und mitfiebern.
Innere Bewegung.
Der Drang, unbedingt weiterlesen zu müssen.
Es ist der Moment, in dem man umblättert, weil man es wissen will.
Wie du Spannung gezielt erzeugst
Hier findest du Techniken, die oft den Unterschied machen.
Wende sie bewusst an und du wirst merken, wie dein Text noch mehr packt.
1. Stelle eine Frage, aber liefere nicht gleich die Antwort
Spannung ist ein Versprechen.
Je klarer die Frage, desto stärker die Erwartung.
Beispiel:
Statt zu schreiben, dass jemand ein Geheimnis hat, zeige die Angst, entdeckt zu werden. Sorge dafür, dass wir wissen, das etwas im Raum steht. Wir dürfen die Antwort nur erahnen, aber nicht kennen.
2. Lass deine Figur zweifeln
Zweifel sind emotional. Und Emotionen sind das Fundament jeder Spannung.
Frage dich beim Schreiben:
Was wünscht sich meine Figur am meisten?
Was ist ihre größte Angst?
Was wäre der höchste Preis?
Wenn das Risiko spürbar ist, steigt Spannung automatisch.
3. Gib Leser*innen das Gefühl, einen Schritt voraus zu sein
Nicht alles muss überraschend kommen. Oft entsteht viel mehr Druck, wenn wir wissen, was kommen könnte, die Figur aber nicht.
Beispiel:
Deine Leser*innen sehen den Schatten im Schrank. Die Figur bemerkt ihn nicht. Wir lesen weiter, weil wir der Figur zurufen wollen: „Dreh dich um.“
4. Nutze Pausen. Lasse deine Leser*innen zu Atem kommen.
Viele Texte sind zu schnell. Infos, Aktionen, Dialoge folgen dicht aufeinander.
Doch Spannung braucht Pausen.
Wenn etwas Wichtiges geschehen ist, lasse Raum zum Nachhall. Eine Pause lässt uns fühlen, was gerade geschehen ist. Und genau das steigert die Spannung.
5. Baue Mikro-Konflikte ein
Nicht jeder Konflikt muss weltbewegend sein.
Oft wirkt ein kleiner Konflikt intensiver als ein großer, weil er näher an der Figur ist.
Ein verhaspeltes Wort.
Ein unerwarteter Blick.
Ein Brief, der nicht geöffnet wird.
Es sind Funken, keine Explosionen.
Aber sie setzen Gedanken frei.
6. Arbeite mit Erwartungen und Brüchen
Spannung entsteht, wenn wir glauben zu wissen, wie es ausgeht, und wenn wir gleichzeitig hoffen, dass wir uns irren.
Frage dich beim Schreiben:
Was erwarten deine Leser*innen an dieser Stelle?
Und in welchem Moment darf ich das infrage stellen?
Keine Willkür, sondern Konsequenz. Überraschungen müssen Sinn machen. Nur dann wirken sie nach.
Mini-Übung:
Beantworte drei Sätze für deine Geschichte:
- Welche Frage lässt deiner Figur keine Ruhe?
- Welche Information kennen die Lesenden, bevor die Figur sie kennt?
- Wo kannst du bewusst etwas verschweigen, statt es zu erklären?
Nimm dir fünf Minuten. Nicht mehr. Du wirst überrascht sein, wie schnell Spannung sichtbar wird.
Fazit
Spannung ist kein Zufallsprodukt und keine Aufgabe für Plotfeuerwerke. Sie entsteht dort, wo wir mitfühlen, mitdenken und mitbangen. In der Lücke zwischen Frage und Antwort.
Wenn du lernst, diese Lücke zu gestalten, entsteht Spannung organisch.
Sanft oder drängend.
Leise oder vibrierend.
Aber immer lesbar.
Immer erlebbar.
Und genau dort beginnt die Art von Spannung, die deinen Leser*innen im Gedächtnis bleibt. Nicht weil etwas passiert, sondern weil es möglich ist.
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